Interview „Allgemeine Zeitung“ vom 16.12.09
Dieses Interview ist am 16.12.2009 in der „Allgemeinen Zeitung“ erschienen.
MAINZ “Sport ist das Schulfach mit dem geringsten Stellenwert, sagt Peter
Sikora, Geschäftsführer des Sportlehrerverbandes Rheinland-Pfalz.
Herr Sikora, Sie sind seit 30 Jahren Sportlehrer – wie fit sind die Schüler
heute im Vergleich zu früher?
Sikora: Das, was früher in der Grundschule geprüft wurde, zum Beispiel der
Handstand, kann ich mir heute erst in der siebten oder achten Klasse
vornehmen. Was früher in Klasse neun auf dem Stundenplan stand, unterrichten
wir heute in der Oberstufe. Alles was mit Kraft und Körperspannung zu tun
hat, können die Kinder und Jugendlichen heutzutage viel schlechter.
Woran liegt das?
Sikora: Bewegung ist einfach kein Thema mehr für viele Kinder. Was ihnen oft
komplett fehlt, ist der unorganisierte Sport, das freie Spiel, die
Straßenspielkultur. Das Spiel auf der Straße, im Wohnviertel, wie ich es aus
meiner Kindheit kenne, ist aufgrund der heutigen Verkehrssituation oft nicht
mehr gefahrlos möglich. Die Eltern haben heute deshalb, aber auch
grundsätzlich, mehr Angst um ihre Kinder. Und mein Eindruck ist, dass Eltern
mit ihren Kindern nicht mehr so viele Dinge unternehmen, die mit Bewegung zu
tun haben.
Warum ist das freie Spiel so wichtig?
Sikora: Weil Kinder dabei lernen und ganz nebenbei trainieren, bestimmte
Situationen zu erkennen und sich angemessen zu verhalten, zum Beispiel, wie
man sich abrollt, wenn man stürzt. Das können viele Kinder nicht mehr, weil
es ihnen nicht mehr oft genug passiert. Deshalb verletzten sich Schüler
heutzutage laut Unfallkasse nicht öfter als früher, aber dafür schwerer.
Kann der Schulsport gegensteuern?
Sikora: Bei zwei Stunden Sport pro Woche ist dies nur ganz schwer möglich
Wie sehen Sie die Situation des Sportunterrichts an der Schule?
Sikora: Es gibt Schulen, die gut ausgestattet sind. Zum Beispiel in Mainz,
wo ich unterrichte, wurden in den vergangenen Jahren einige Schulsporthallen
und -plätze saniert oder neu gebaut. Diese guten Voraussetzungen haben nicht
alle. Aber auch wenn die Sportstätten nicht marode sind, wird es oft eng,
zum Beispiel wenn sich drei Klassen eine Halle teilen müssen. Da ist ein
qualitativ hochwertiger Sportunterricht nicht mehr möglich.
Welchen Stellenwert hat der Schulsport?
Sikora: Sport ist das Fach, das am ehesten ausfallen kann, es hat leider den
geringsten Stellenwert. Wenn in der siebten Klasse vier Wochen lang der
Mathematik-Unterricht ausfällt, weil ein Lehrer krank ist, dann laufen
Eltern und Elternbeirat Sturm. Wenn das mit Sport passiert, gibt es meist
keine Reaktion.
Reicht die Zahl der Sportstunden, die in der Stundentafel festgelegt sind,
aus?
Sikora: Nein. Der Sportlehrerverband fordert von der Politik seit Jahren
drei Sportstunden für alle Klassenstufen ohne Erfolg. Bildungspolitik ist
eben auch Finanzpolitik, es geht nicht immer darum, was den Schülern gut
tut. Wenn nur zwei Sportstunden vorgesehen sind, haben die Schüler in der
Praxis nur noch eine Sportzeit in der Woche, denn Sport wird in der Regel
als Doppelstunde gehalten, weil Hin- und Rückweg zur Sportstätte eingeplant
werden müssen. Und das ist von der Diskussion über die Qualität des
Unterrichts einmal abgesehen zu wenig. Ideal wäre die täglich Stunde
Sport.
Stichwort Qualität. 50 Prozent des Sportunterrichts werden von fachfremden
Lehrern unterrichtet, vor allem an den Grundschulen.
Sikora: Wenn wir nicht erreichen, dass in der Stundentafel mehr Sport
auftaucht, muss die Qualität verbessert werden. Grundschullehrer müssen mehr
qualifiziert werden. Es gibt schon jetzt zahlreiche Fort- und Weiterbildungen für
Grundschullehrer, die auch stark nachgefragt werden – aber er sind zu wenig
Angebote. Auch müssen die Schulen dafür sorgen, dass die so genannten
Bewegungszeiten am Nachmittag durch Sportlehrer gut gestaltet werden. Und in
Ganztagsschulen sollte es verpflichtend mindestens eine zusätzliche Sporteinheit geben.
Denn gerade die Kinder, die Bewegung nötig hätten, wählen bei den
freiwilligen Projekten am Nachmittag meist kein Sportangebot. Es ist auch
enorm wichtig, bei den Eltern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wichtig
Sport und Bewegung in der Schule sind, damit es auch von dieser Seite
Unterstützung gibt.
Welche Rolle spielen die Sportvereine, wenn es darum geht, Kinder zu
bewegen?
Sikora: Was in manchen Vereinen sicher fehlt, sind Angebote “ohne Ziel³, die
das freie Spiel in den Vordergrund stellen und nicht in den
Leistungsgedanken. Aber der Leistungssport hat einfach eine stärkere Lobby
und in Vereinen geht es ja auch immer darum, wer wann einen Platz oder eine
Halle belegen kann. Aber es ist auch die Frage, ob dieses freie Angebot
Aufgabe eines Sportvereins sein muss, oder ob da nicht viel mehr das
Elternhaus gefordert ist.