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Offener Brief: Sportunterricht in Corona-Zeiten

Liebe Mitglieder,

Unser Mitglied Hupsi Herzberg hat uns einen bemerkenswerten offenen Brief zugesandt, den wir Ihnen unbedingt zugänglich machen wollen. Es würde uns freuen, wenn Sie sein Angebot einer offenen Diskussion mit Ihm annehmen. Und uns vielleicht sogar Ihre Ideen zur Veröffentlichung zukommen lassen würden.

Hier können Sie den offenen Brief als PDF herunterladen.

Liebe Sportkolleginnen und Sportkollegen,

die Corona-Krise hat uns alle sehr gefordert und die Schulen vor enorme organisatorische Herausforderungen gestellt. Meiner Meinung und Beobachtung nach wurde die Pandemie bisher allerdings nicht im notwendigen Maße auch als pädagogische Herausforderung thematisiert.

Seit Anfang 2020 sind Kindern entwicklungs- und gesundheitsrelevante Lebensbereiche massiv beschnitten worden. Auf die bedenklichen Konsequenzen weisen in zunehmender Häufigkeit Medienberichte und Studienergebnisse hin. Experten schätzen, dass circa ein Drittel der Kinder psychische Auffälligkeiten wie Depressionen, Angststörungen oder Essstörungen entwickelt haben. Hinzu kommen Probleme durch körperliche Inaktivität mit den üblichen Folgeerscheinungen. Darüber hinaus war es Kindern nur eingeschränkt möglich, die für ihr Alter üblichen Entwicklungsaufgaben, etwa im psycho-sozialen Bereich, zu leisten.

In welchem Verhältnis Schule im Allgemeinen und unser Fach Sport im Speziellen zu diesen Entwicklungen steht, welcher (veränderte) Erziehungsauftrag sich hieraus ableiten lässt und warum es nicht reicht, sich auf Lernrückstände im inhaltsbezogenen Sinne zu fokussieren, habe ich an verschiedenen Stellen mit Kolleginnen versucht zu diskutieren. Hierbei habe ich angemahnt, dass „das Gerede von ganzheitlicher Bildung“ nicht zu leeren Worthülsen in pädagogischen Feiertagsreden verkommen darf, sondern evtl. nicht trotz, sondern gerade jetzt in dieser Zeit ernstgenommen werden muss. In diesen Gesprächen mit Kolleginnen in verschiedenen Kontexten zeigten sich hierzu so gravierende Meinungsunterschiede mit unterschiedlichen (sport-)pädagogischen Schwerpunktsetzungen, dass man von unterschiedlichen Bildungsverständnissen sprechen könnte.

Ich selbst verstehe Bildung verkürzt als jegliche subjektiv bedeutsame Klärung oder Erweiterung der individuellen Selbst-, Anderen- oder Weltverhältnisse. Hierbei halte ich es für außerordentlich wichtig, dass Kinder die Auseinandersetzung mit dem Selbst (z.B. Entwicklung eines Selbstkonzeptes) im Spiegel Gleichaltriger vollziehen; ihr soziales Konzept im Wesentlichen unter Altersgenossen entwickeln und erproben und die sie umgebende Welt, auch unsere Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur, gemeinsam mit anderen Kindern erschließen und deuten, um zu altersgemäßen kindlichen Konstruktionen zu kommen. Kurz gesagt: Kindliche Bildung ereignet sich in hohem Maße in sozialer Ko-Konstruktion unter Peers. Hierzu gibt wohl wenige kindgerechtere Gelegenheiten als das kindlich-sportive Bewegungsspiel. Dieses wurde Kindern jedoch über einen langen Zeitraum massiv vorenthalten.

Der Fernunterricht fokussierte logischerweise inhaltsbezogene Kompetenzen. Auch der Wechselunterricht scheint überwiegend vom Lehrplan der Hauptfächer aus gedacht zu sein. Und in der Tat ist die Frage danach, wie möglichst viele Kinder die üblichen Lernstände zeitnah wieder erreichen können eine immense pädagogische Herausforderung. Hierbei dürfen wir aber nicht vergessen, dass Schule nicht nur den Dimensionen der Sacherschließung und Qualifikation, sondern auch immer der kindlichen Entwicklungsförderung verpflichtet ist. Für unser Fach kommt dies im sogenannten Doppelauftrag des erziehenden Sportunterrichts zum Ausdruck.

(Sport-)Unterricht und Schule muss meines Erachtens besonders jetzt so inszeniert sein, dass Kinder Selbst- und Mitbestimmungsfähigkeit sowie Solidaritätsfähigkeit (wieder-)lernen (Bewegungsbildung im Horizont allgemeiner Bildung), Einstellungen und Haltungen weiterentwickeln (z. B. Fairplay-Erziehung) und eigene Neigungen und Potenziale entdecken und pflegen dürfen (Subjektentfaltung). Und da dies, wie zuvor skizziert, vor allem in kindlicher Ko-Konstruktion gelingt, gilt es zu diskutieren, durch welche unterrichtlichen Strategien Aspekte wie kooperatives Lernen, direkte Interaktion oder erlebte Zwischenleiblickeit gestärkt werden können und welchen wichtigen Beitrag hierzu unser Fach leistet. Eine coronakonforme Bewegungslandschaft in unserer Turnhalle, genannt Bewegungsforum, ist als ein Beispiel für eine mögliche Ableitung aus den dargelegten Überlegungen zu verstehen. In der Umsetzung war es für mich wesentlich, dieses Bewegungsangebot nicht als geschlossenen Stationsbetrieb mit festgelegten Bewegungsanweisungen durchzuführen, sondern es den Schüler*innen als ein offenes, durch sie selbst gemeinsam interpretierbares und gestaltbares Angebot zu unterbreiten. Andere wertvolle Ideen sind bestimmt in verschiedenen Schulen realisiert worden. Es geht mir hier jedoch nicht nur um unser Fach Sport. Wenn jedoch Aussagen wie: „Ich mache eigentlich fast nur Deutsch und Mathe, und evtl. noch ein bisschen Sachunterricht, weil das im Moment halt einfach das Wichtigste ist“ breite Zustimmung erfahren und andererseits das Fach Sport in manchen Schulen de facto seit Wochen nicht stattfindet oder auf Alibiveranstaltungen reduziert wird, in denen allein eine, wie auch immer geartete, Bewegungsdimension zählt, zeugt dies meines Erachtens von einem diskussionswürdigem Bildungsverständnis. Einem Bildungsverständnis, dass meiner Meinung nach nicht dazu geeignet ist, die eingangs erwähnten pandemiebedingten gesundheits- und entwicklungsbezogenen Probleme von Kindern zu kompensieren.

Auch wenn ich keine fertigen Lösungen für die pädagogischen Herausforderungen der nächsten Monate parat habe, würde ich mir wünschen, dass wir als Pädagogen die von mir beschriebene Problematik intensiver diskutieren.

Für unser Fach Sport gilt meiner Meinung nach in besonderem Maße: Es reicht nicht, dass es wieder stattfindet, sondern es gilt zu diskutieren, wie es jetzt stattfinden muss. Ich persönlich werde beispielsweise nicht zu gewohnten Handlungsroutinen zurückkehren und nun im Sommer wie sonst Individualsportarten verstärkt durchführen, sondern, im Rahmen des jeweils aktuell Erlaubten, einen bewussten Schwerpunkt auf Bewegungs-, Spiel- und Sportideen setzen, die direkte kommunikative, körperliche und taktische sowie kooperative Auseinandersetzungen unter Kindern „wiederbeleben“, um die oben beschriebenen kokonstruktiven Prozesse anzustoßen. Ich bin davon überzeugt, dass sich durch einen Austausch über die skizzierte Problematik in den Kollegien sowie eine Diskussion über die von mir angerissenen oder ähnlich gelagerten Gedanken zur Unterrichtsgestaltung, die Horizonte und Standpunkte eines jeden Einzelnen von uns verändern würden und wir uns zum Wohl der Kinder in unserem Arbeiten weiterentwickeln werden.

Herzliche und sportliche Grüße

Stephan Herzberg